Einführung

Ist der Gedanke, die Zeit könnte reif sein für eine neue Art von Verfassung, vermessen? Hat sich das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht offensichtlich nachhaltig bewährt? Wäre man nicht von allen guten Geistern verlassen, eine so solide Grundlage staatlicher Ordnung in Frage zu stellen?

Der herrschende Zeitgeist sagt hierzu noch immer ein klares Ja. Dennoch muss zu denken geben, dass die Identifikation mit der Demokratie, wie sie ist, zunehmend verblasst, dass sich immer mehr Bürger in politischen Fragen ratlos fühlen und dass die Politikangebote politischer Parteien immer weniger noch als verlässliche Orientierung angenommen werden. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass dieser politische Entfremdungsprozess sich umkehren oder zum Stillstand kommen könnte. Alles spricht dafür, eher das Gegenteil anzunehmen. Die Konstruktion der herkömmlichen Demokratie baut noch darauf auf, dass Politik vornehmlich Austragungsart aktueller gesellschaftlicher Interessenkonflikte ist, und eben dies prägt auch immer noch politisches Denken, Reden und Handeln. Die Hauptaufgaben der Politik verschieben sich indessen immer mehr hin zu langfristigen Problemen, die die Gesellschaft als ganze betreffen. Dieser grundlegende Wandel dringt langsam ins politische Bewusstsein ein, aber Staat und Verfassung sind hiervon noch vollkommen unberührt.

Die Identifikation mit der Demokratie, wie sie ist, gründet zuallererst auf dem allgemeinen Wahlrecht, aber gerade Wahlen werden weniger denn je als sinnstiftender Garant kompetenter Politik angenommen. Vielmehr werden insbesondere Wahlkämpfe, die ja die Höhepunkte demokratischen Politikerlebens sein sollten, zunehmend als inhaltsarme Schauveranstaltungen erlebt. Damit aber befindet sich die herkömmliche Demokratie bereits in einer ähnlichen Phase wie frühere Politikregime, die ihren historischen Bedeutungszenit überschritten hatten. Und da dies so ist, bedarf die Staats- und Verfassungsentwicklung demokratischer Staaten dringend einer langfristigen neuen Orientierung. Eben solche – betont langfristige – Orientierung will der nachfolgende Verfassungsentwurf geben.

Überalterte Regime sind immer auch an einer Auszehrung der von Amts- und Mandatsträgern und von politischen Medien strapazierten Begriffe und formelhaften Botschaften zugrunde gegangen, also letztlich daran, dass die Bürger einer verschlissenen politischen Rhetorik zunehmend überdrüssig wurden und sie am Ende nicht mehr ertrugen. In diesem Prozess kann schon die Verweigerung politischer Kommunikation zu einem subjektiven Befreiungserlebnis werden. Eine reale Befreiung setzt aber natürlich eine Vorstellung davon voraus, wie über Politik anders geredet, Politik anders gedacht und wie sie – in Anpassung an ihre gewandelten Aufgaben – neu organisiert werden könnte.

Die augenfälligste Zumutung der herkömmlichen Demokratie liegt in dem Ansinnen, dass Bürger mit einem Kreuz auf einem Wahlzettel das Ganze der Politik in eine für sie gute Richtung lenken sollen. Der indes naheliegende Gedanke, dass den Bürgern hiermit zunehmend Unmögliches abverlangt wird, wird vom herrschenden Demokratiediskurs noch immer nach Kräften verdrängt. Dies zeigt sich u.a. in alarmistischen Reaktionen des „Systems“ auf die drohende weitere Verbreitung des Nichtwählens. Diese Reaktionen kommen nicht überraschend. Wird nämlich das Nichtwählen erst einmal salonfähig, geht damit in der Tat die Blütezeit der herkömmlichen Demokratie ihrem Ende entgegen. Dann kommt eine Zeit, in der die Wähler eher die unkritische, die Nichtwähler dagegen die eher kritische Masse der wahlberechtigten Bürger ausmachen.

Natürlich bringen Nichtwähler vorerst kaum mehr als ihre eigene Ratlosigkeit zum Ausdruck. Gleiches gilt für die meisten Wähler so genannter Protestparteien, die das parlamentarische System immer wieder hervorbringt und irgendwann wieder ausspuckt. Nicht viel anders geht es den zahllosen zivilgesellschaftlichen Initiativen, die ihr Unbehagen am Zustand der Demokratie an einzelnen Themenschwerpunkten wie den Finanzmärkten, dem Arbeitsmarkt, der europäischen Union, der Energie- und Klimapolitik und anderem festmachen. All solche Engagements bleiben vorerst harmlose Begleiterscheinungen eines in seinen Defiziten noch unerschütterlichen, weil alternativlos erscheinenden Politiksystems. Das Ziel muss daher sein, zu herkömmlichen demokratischen Verfassungen echte Alternativen zu entwickeln. Erst wenn solche Alternativen konzipiert sind, lässt sich ermessen, ob bzw. um welchen Preis die Zumutungen herkömmlicher Politik überwindbar sind. Dann erst könnte auch das Nichtwählen zu einer wirklich gezielten politischen Aktion werden. Es könnte ein implizites Nein zur bestehenden Verfassung werden und zugleich ein implizites Ja zu einer grundlegenden Verfassungsreform. Genau diese Perspektive eröffnet der hier vorgelegte Verfassungsentwurf.

Der Urtext einer neuartigen Verfassung ist natürlich keine Lektüre für jedermann, die ihre ganze Bedeutung auf Anhieb preisgäbe. Grundlegende Verfassungsentwicklung kann aber nicht mit einer leicht verständlichen Jedermann-Verfassung beginnen. Ein neuer Verfassungsentwurf muss erst einmal in einer sehr eigenen, zunächst entsprechend sperrig erscheinenden Sprache verfasst sein, die auch den Sprachgebrauch bestehender Verfassungen nur teilweise aufnehmen kann.

Wer sich die Lektüre dieses Verfassungsentwurfs zumutet, wird trotzdem erkennen, dass es hier um die Grundlage einer neuen Art von Politik und ein neuartiges Politikerlebnis geht. Die erste grundlegende Erneuerung dieses Entwurfs ist die Systemoffenheit der Verfassung. Staatsverfassungen sind in der Vergangenheit immer mit dem Anspruch auf weitgehende Endgültigkeit verfasst und beschlossen worden. Dass sie irgendwann veralten könnten, und zwar auch in grundlegenden Fragen, wagten die Schöpfer auch demokratischer Verfassungen bisher nie und nirgendwo mitzudenken. Dies ist ein elementares, wenn nicht das elementarste Versäumnis, das eine zukunftsfeste Verfassung auszuräumen hat. Im hier vorgestellten Entwurf geschieht dies mit dem Konzept eines auf Verfassungsentwicklung spezialisierten unabhängigen Staatsorgans, des so genannten permanenten Verfassungsrats bzw. Verfassungskongresses.

Verfassungen sind in der Vergangenheit immer als Stabilitätsanker von Staat und Politik konzipiert und verstanden worden. Aus gutem Grund wurde auch eine stabile emotionale Bindung an die Verfassung – Stichwort Verfassungspatriotismus – lange als Garant dafür angesehen, dass politisches Bewusstsein und reale Politik nicht hinter den Stand politischer Zivilisierung zurückfallen, auf dem die Verfassung fußt. In einer sich immer rascher wandelnden Welt muss aber die Rolle vormaliger Stabilitätsanker auch im Politischen, also auch die Rolle von Verfassungen, gründlich überdacht werden. Verfassungen werden künftig einen zunehmend schwierigen Spagat zwischen Stabilität und Veränderlichkeit zu meistern haben. Im hier vorliegenden Verfassungsentwurf wird die Rolle des Stabilitätsankers von Staat und Politik daher geteilt. Einerseits wird die Verfassung wandlungsfähiger gestaltet, um nicht früher oder später – bzw. immer wieder – hinter dem gesellschaftlichen Wandel zurückzubleiben. Andererseits wird der permanente Verfassungskongress geschaffen, eine „ewige“ Institution als Garant nachhaltiger Verfassungsentwicklung. Verfassungs-patriotismus würde unter dieser Voraussetzung nicht mehr nur als Bindung an einen Text gelebt, sondern ebensosehr als Identifikation mit einer Institution. Er wäre, genauer gesagt, einerseits die Bindung an langfristig stabile Verfassungsgrundsätze und Grundwerte, andererseits das langfristige Vertrauen in einen Verfassungskongress, der die Organisationsnormen der Verfassung wandlungsfähig hält.

Man könnte es bei der Weiterentwicklung von Staat und Verfassung zunächst einmal mit der Herstellung von Systemoffenheit bewenden lassen. Hiermit wäre schon die Voraussetzung dafür geschaffen, dass Staat und Verfassung flexibler auf neue Anforderungen und Aufgaben reagieren, als dies in der Vergangenheit möglich war. Der vorliegende Verfassungsentwurf enthält aber schon in den Verfassungsgrundsätzen und den Grundrechten darüber hinausgehende Wegweisungen.

Der wichtigste und dringendste Entwicklungsschritt nach Einführung der systemoffenen Verfassung wäre die Abschaffung der so genannten politischen Allzuständigkeit. Der vorliegende Verfassungstext ließe auf lange Sicht keine Amts- und Mandatsträger und keine Organisationen mehr zu, die sich die Zuständigkeit für das Ganze der Politik anmaßen. Damit erspart eine solche Verfassung auch den Bürgern die Zumutung, in einem einzigen Akt, z.B. mit der Wählerstimme für oder gegen eine Partei oder einen Kandidaten, über das Ganze der Politik zu urteilen. Allen Politikbeteiligten wird so die Selbstbeschränkung auf das für sie Durchschaubare und Beherrschbare ermöglicht. Auch hierin ist nicht weniger als eine politische Zeitenwende angelegt.

Aus der Abschaffung der politischen Allzuständigkeit ergibt sich fast zwingend das Konzept einer Sachgliederung des Staates in eigenständige Staatssparten. Dies sind eigenständige Staatlichkeiten mit eigener Legislative und Exekutive, die für je einen Teilbereich von Politik – zweckmäßigerweise für nur ein Politikressort – zuständig sind. Die Eigenständigkeit solcher Staatssparten ist die Voraussetzung dafür, dass es mit der politischen Allzuständigkeit von Politikern und Bürgern tatsächlich ein Ende hat – und sich die damit verbundenen Veränderungen im Wesen von Politik einstellen, die andernorts ausführlich beschrieben sind. Hier seien nur einige der Politikbereiche genannt, die nach und nach vollständige Eigenständigkeit entwickeln könnten:

- Währung (Zentralbank)
- Wirtschaft und wirtschaftliche Zusammenarbeit
- Umverteilung und soziale Sicherheit
- Innere Sicherheit
- Bildung, Kultur, Wissenschaft, Medien
- Justiz bzw. Privatrecht / öffentliches Recht
- Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen (Klima, Umwelt, natürliche Ressourcen)
- Verteidigung und Friedenssicherung
- Gesundheit und Verbraucherschutz
- Identifikation, Repräsentation und Symbolik.

Grundlegend verändert würde das Wesen der Politik darüber hinaus durch die Anerkennung der so genannten politischen Assoziationsfreiheit als Grundrecht. Diese Freiheit ist, einfach gesagt, die Entscheidungsfreiheit über das Wer-mit-Wem in Sachen Staatsbürgerschaft. Ihre Anerkennung würde u.a. die zwischenstaatlichen Beziehungen dieser Welt aus einer jahrtausendealten Zwangsjacke befreien. Wer sich mit diesem Konzept auseinandersetzt, wird feststellen, dass die Idee der politischen Freiheit noch längst nicht zu Ende entwickelt ist.

Trotzdem ist das vorliegende Verfassungskonzept natürlich kein einseitiges Freiheitskonzept. Es ist ebenso und mehr noch ein Konzept, das Prinzipien wie Solidarität, Kontinuität, Fairness und Transparenz fester im Staat verankert, als bisherige Verfassungen es getan haben. Sich die weitreichenden Konsequenzen all dessen zu erschließen ist ein aufregendes Unterfangen, auch wenn der vorliegende Verfassungsentwurf zunächst als ein eher abstraktes Denkexperiment erscheinen mag. Führt man dieses Experiment aber weiter, malt man sich also konkret aus, wie Staat, Politik und Gesellschaft sich durch eine solche Verfassung wandeln würden, eröffnen sich neuartige Vorstellungswelten. Dann erscheint die herkömmliche Demokratie als ein mittlerweile stark unterentwickeltes Staatsmodell, das Fortschritten in politischer Kompetenz und Zivilisierung seit Langem im Weg steht.

Dass die Verfassungen herkömmlicher Demokratien eine höchst unvollkommene Staatsordnung schaffen, lässt sich nicht nur an der Geschichte und dem Zustand dieser Demokratien erkennen. Erkennbar wird es auch immer wieder an leidvoll und zeitweise tragisch verlaufenden Versuchen, vormals autoritär regierten Staatsvölkern die herkömmliche Demokratie als vermeintliches Heilsmodell aufzuzwängen. Solche Tragödien werden sich wiederholen, solange der noch nicht demokratisierten Welt keine besseren Lösungen angeboten werden als die Übernahme des herkömmlichen Demokratiemodells. Das hier vorgestellte Verfassungskonzept eröffnet hierzu vielfältige Alternativen . Diese sollten aber erst einmal von demokratieerfahrenen Staaten und Staatsvölkern umgesetzt und vorgelebt werden, damit werdende Demokratien sie bedenkenlos als Vorbild annehmen können.

Dass Demokratien in jüngerer Zeit zunehmend als reformunwillig oder -unfähig wahrgenommen werden, hat sicher vielerlei Gründe. Deren vielleicht wichtigster ist, dass selbst kleine Systemreformen ungern gewagt werden, wenn sie nicht als notwendige Schritte zu größeren Zielen erkennbar sind. Eben daran aber, an erkennbaren größeren Zielen, hat es im jüngeren Demokratiediskurs immer gefehlt. Der vorliegende Verfassungsentwurf zeigt, dass große Ziele in der Tat greifbar sind. Woran es vorerst allerdings weiterhin mangelt, ist ein breiter Veränderungswille. Vorerst.